Die wütenden Mütter von der Copacabana

Maria trommelt so laut sie kann, die Mutter des in der vergangenen Woche bei einer Polizeiaktion in der Favela Pavao-Pavaozinho in Rio de Janeiro unter bislang noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Berufstänzers Douglas Rafael steht an einer Straßenkreuzung zwischen zwei Luxushotels am weltberühmten Copcabana-Strand. Es ist Sonntagnachmittag und die Strandpromenade gehört um diese Zeit eigentlich den Schönen und Reichen. Inline-Skater, Models und Fitness-Fanatiker nutzen diese Bühne an Strandturm Nummer 5, um zu sehen und gesehen zu werden. Von nebenan überträgt das brasilianische Fernsehen ein Beachsoccer-Turnier. Aus den Lautsprechern hämmern die Bässe. Gute Laune ist hier Pflichtprogramm.

Mitten drin steht Maria de Fatima da Silva mit ihrer Sambatrommel, die eigentlich viel zu groß ist für die kleine, zierliche Frau. Auch ihre überdimensioniert wirkende Sonnenbrille kann die Trauer über den Tod ihres Sohnes nicht verbergen. Marias markante, harte Gesichtszüge sind mittlerweile im ganzen Land bekannt, denn Marias Protest aber auch ihre Entschlossenheit, die Geschehnisse nicht einfach so hinzunehmen, haben sie praktisch über Nacht zu einer Symbolfigur gemacht und sie in die Nachrichtensendungen und auf die Titelseiten der Tageszeitungen gespült. An ihrer Seite stehen weitere Mütter, die auf das Schicksal getöteter oder verschwundener Kinder aus den letzten Monaten aufmerksam machen. Abwechselnd treten sie nach vorne, zeigen den Fotografen die auf den ihren Pappplakaten aufgeschriebenen Namen der Opfer.

Um die Mütter herum hat sich eine große Menschentraube gebildet. Es sind vor allem Jugendliche aus den umliegenden Favelas, die sich bei der rund dreistündigen Demonstration mit Maria solidarisieren. „Ich habe es nicht verdient, ermordet zu werden“, steht auf den handgemalten Plakaten, die sie in die Höhe halten. Aktivisten, einer von ihnen ist als Batman verkleidet, fordern Gerechtigkeit, ein Ende der Polizeiaktionen und vor allem eine Perspektive. Immer wieder brandet Beifall auf, dann trommelt Maria, minutenlang so fest sie kann. Viele Passanten bleiben stehen, hören zu. Dann verschwindet das coole Lächeln und verwandelt sich Anteilnahme und Unbehagen. Einige zücken ihre Smartphones, andere winken ab. Im Minutentakt treffen internationale Journalisten ein, die das Geschehen dokumentieren. Der Kampf von Maria hat das Potential und die Dynamik mehr zu werden, als nur eine Momentaufnahme. Ob daraus eine Bewegung entstehen kann, wird die Zukunft zeigen. Am Abend meldet Rios Tageszeitung „Oglobo“ den Tod einer 72 Jahre alten Frau. Arlinda Bezerra das Chagas war offenbar zwischen die Fronten in der berüchtigten Favela Alemao geraten. Minuten zuvor hatten sich Polizisten und Drogengangs eine Schießerei geliefert. Wer den tödlichen Bauchschuss abgegeben hat, soll nun untersucht werden.

Gut sieben Wochen vor der Weltmeisterschaft nimmt die Spannung in Brasilien zu. Vor allem die Polizeigewalt rückt in den Fokus der Proteste. Im Vorfeld der WM und Olympia 2016 wurden in Rio zahlreiche Favelas von Drogengangs gesäubert, doch nun kehrt die Gewalt offenbar zurück. Immer mehr Fälle von Polizeigewalt werden öffentlich und damit rückt auch die „Pazifizierungsstrategie“ von Präsidentin Dilma Rousseff in die Kritik. WM-Gegner störten am Wochenende eine Veranstaltung der Linkspolitikerin.

Auch in Sao Paulo wendet sich ein Opfer an die internationalen Medienvertreter und wirbt um Mitgefühl. Ex-Weltfußballer Ronaldo fühlt sich ungerecht behandelt. „Der Brasilianer glaubt, dass die Weltmeisterschaft die Rettung für unser Land sei, mit Fortschritten in der Bildung, der Gesundheit und der Sicherheit. Sie wird Profit abwerfen, aber nicht diese Probleme lösen“, sagte „El Fenomeno“. Auch er sei gegen die Kostenexplosion, überteuerte Rechnungen und die Korruption, versichert der ehemalige Weltfußballer, der als Mitglied des lokalen Organisationskomitees eigentlich genau diese Auswüchse hätte verhindern müssen. Doch Ronaldo ist sich keiner Schuld bewusst, schiebt die Verantwortung auf die Politiker: „Ich bin nicht der, die Verträge unterzeichnet hat. Ich habe niemand unter Vertrag genommen. Ich hoffe, dass die Bevölkerung unsere Politiker in die Pflicht nehmen. Die Menschen, die dafür verantwortlich sind, was im Land passiert.“ Ronaldos Werbeeinnahmen im Vorfeld der WM werden auf rund zehn Millionen Euro geschätzt. An Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke hat der Ex-Weltmeister seine Privatwohnung in Rios Nobelviertel Leblon für mehrere hunderttausend Euro vermietet. Zumindest in eigener Mission war Ronaldo damit deutlich erfolgreicher, als in seiner ehrenamtlichen Funktion als Mitorganisator der WM.

Von Tobias Käufer, Rio de Janeiro